Rostbraune Wellblechdächer, so weit das Auge reicht. Dazwischen und am Horizont einzelne Gebäude aus Beton, ein Wirrwarr von Stromleitungen und Antennen. Irgendwo ragen zwei weiße Minarette aus der graubraunen Eintönigkeit des Elendsquartiers, eines von vielen in Lagos.
Das Schlimmste, denkt sie manchmal, das Schlimmste ist der Gestank. Unter den Sinnen ist der Geruchssinn ja eigentlich der barmherzigste. Er adaptiert – in gewissen Grenzen. Aber vielleicht macht es das gerade so schlimm, dieses ewige Mehr oder Weniger an Gestank, je nachdem, woher der Wind kommt, ob die Fenster geöffnet sind, ob die Putzgruppe mit ihren scharfen Desinfektionsmitteln schon da war. Die Klinik, wenn dieser Ausdruck dafür überhaupt in Frage kommt, liegt mitten in den Slums von Lagos. Inmitten der Hütten, der geduckten, gedrungenen Häuser, der windschiefen Holzverschläge. Mitten im Dreck. Im Müll, im Unrat, einem blasenwerfenden Morast aus Industrieabfall und Fäkalien. Hier stinkt es eigentlich immer, es ist das Parfum der vollständigen Hoffnungslosigkeit. In die Kloake, die manchen Behausungen bis fast unter die Fenster reicht, haben die Bewohner der Gegend Bohlen gerammt und darüber Bretter genagelt, schwingende Holzpfade, gerade breit genug, dass sich zwei Menschen aneinander vorbeidrücken können, ohne dass einer hinabsteigen muss in den stinkenden, plastik- und blechdurchsetzten Brei.
Einer dieser Bretterpfade führt zur Klinik. Hier liegt sie. Mary ist siebzehn. Das Mädchen rechnet mit nichts mehr. Schnaufend und rasselnd wie die nach panischer Flucht oder Jagd pumpenden Lungenflügel eines Schakals hebt und senkt sich der Blasebalg, des primitiven Geräts, das ihr beim Atmen helfen soll. Das Gummi vor ihrem Mund riecht nach abgestandenem Schweiß, wie so vieles hier, beschlagen, fettig, atemnehmend. Sie würgt, hustet, spuckt, ein Zucken und Aufbäumen läuft durch ihren Körper, die schweißperlenbesetzte Stirn der ältlichen Schwester vor ihren Augen. Ihr Mund, wie losgelöst vom starren Körper, murmelt Unverständliches. Sie heißt Mary Adimbho und ist seit 4 Monaten in dieser Klinik. Viel bleibt ihr nicht mehr vom Leben. Das weiß sie. Das wissen alle hier. Sie wird sterben und hier verwalten sie ihren Tod, möglichst kostengünstig, weil alle Hilfsmittel und Arzneien teuer sind. Die Schwester, die gerade das Zimmer betreten hat, kommt auch an ihr Bett, drückt die verrutschte Atemmaske gewaltsam auf Nase und Mund und in einem neuen würgenden Anfall verliert Mary das Bewusstsein. Das passiert vier- bis fünfmal am Tag, es sind kleine Tode, die sie nicht mehr missen will. Ginge es nach ihr, dann könnten es davon noch mehr sein, gar nicht mehr aufhören könnte die Bewusstlosigkeit, dann wäre es endlich vorbei. Dann wäre auch der Schmerz vorbei.
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