Der Lastwagen, in dem sie saßen, ratterte hechelnd über die Straße. Aus den uralten, billigen, nachträglich eingebauten Boxen mit Holzverschalung donnerte Punkmusik einer Band die sich programmatisch für diesen Abend „All Systems Go!“ nannte und zwischen ihnen lümmelte Muff, ihr bester Freund, der eigentlich Karl-Michael hieß. Sie und Luis hatten ihn - sie noch hormondampfend - vor seiner Wohnung aufgelesen. Sie waren also zu dritt, aber von Ewa wusste Klaiber zunächst nichts. Klaiber war der Auftraggeber. Für ihn holten sie das Zeug. Der Drahtzieher des Spiels. Eines jener Spiele, die Luis gerne spielte. Ein wenig Risiko, ein bisschen Kriminalität, nichts Schlimmes, nichts Gefährliches, nur ein wenig Spaß in diesen Zeiten, in denen es so wenig Spaß gab. Dafür ein ein bisschen Geld für wenig Risiko. Geld, das war auch für Ewa in Ordnung, Geld war immer in Ordnung, das war schon ein Grund. Mit dieser Sache hier hatte sie kein Problem. Auch wenn das nicht die ganz feine Art war. Aber ganz fein war sie nie gewesen. Fein, was sollte das heißen? Oben zu sein? Dass sie nicht lachte. Ganz oben war sie nie gewesen. Das war in Ordnung. Immer in Ordnung gewesen. Sie kannte es nicht anders. Schon im Kindergarten war sie, wenn sie ehrlich sein sollte, nicht oben gewesen, in der Schule noch weniger, nach dem Beinahe-Scheitern im Gymnasium erst recht nicht. Ihre Eltern wären danach schon mit dem Mittleren Dienst in irgendeiner Scheiß-Behörde oder einer Bank zufrieden gewesen. Aber das war ihnen nicht vergönnt. Nein, wirklich nicht. Selber schuld, dachte Ewa. Hätten sie nicht nur ein Kind gezeugt, dann hätten sie mehrere Eisen im Feuer gehabt. So blieb ihnen nur der bittere Blick auf die Karrieren der Anderen. Denn oben waren immer die Anderen. Oben waren Schönheitschirurgen, Zahnärztinnen, Scheidungsanwälte, Aktienbesitzer, kluge Altersabsicherer, Immobilienmakler, von Selbstwertzweifeln geplagte Bühnenschaffende, Kaufleute jeder Couleur, selbstverliebt-bildungsbürgerliche Theaterabonnenten in ihren Stadtrandghettos, liberal-übergewichtige, zum Doppelkinn neigende, selbstzufriedene Überzeugtleistungsträger jeglichen Geschlechts, den Wall Street Journal-Blick in Kontoauszüge versenkt, so wie ihr früherer Vermieter, jünger als sie, aber vollaktiver Erbe und Makler von sechs fünfstöckigen Jugendstil-Altbauten in bester Lage. Sie kannte sie alle. Wer die ganze Jugend mit ihnen verbrachte, kannte sie. Wusste, wie sie dachten. Ahnte, wie sie fühlten. Und wollte mit ihnen nichts zu tun haben.
Sie hatte nie das getan, was sie so tun. Hatte nie einen ihrer Jobs ergriffen und nur das Geld eingestrichen, nie teure Autos gefahren, war nie als blondes Weibchen mit herrischem Zickenblick in die sonntagnachmittägliche Kampfarena der Eitelkeiten stolziert. War nie per Handschlag und mit Stuhl-Anbieten vom besten Anlageberater der Bank empfangen worden, wurde nie eingeladen zu Lesungen, Filmpremieren und Vernissagen, hatte nie Handy-Rechnungen bezahlt, von denen in manchen Gegenden eine vierköpfige Familie leben konnte, kannte die Business-Lounges der internationalen Flughäfen nur aus dem Fernsehen. Ewa war nie zum Heli-Skiing in Kanada, nie zur maklerbegleiteten Finca-Tour auf Mallorca, nie zum Golfen in Arizona. Sie hatte nie besoffen im Abendkleid im Mercedes-Benz die Türsteher vor den In-Discos weggescheucht wie Straßenköter in Bukarest, hatte nie mit vollen Champagnergläsern im Negresco in Nizza um sich geworfen, hatte sich nie wie ein von vor zuviel Prosecco hicksendes Model von überdynamischen, kokainäugigen Vertriebsmanagern vögeln lassen. Nichts davon. War okay. War immer okay. Sollte nicht sein. Brauchte sie nicht. Wollte sie gar nicht, hatte sie wirklich nie angestrebt. Es war schon in Ordnung, so wie es war. Es war okay, auch wenn es bei ihr bisher noch nicht einmal zu den üblichen sozialen und materiellen Begleiterscheinungen eines durchschnittlich saturierten Wohlstandsbürgerdaseins gereicht hatte. Das hätte Ewa dann doch irgendwann einmal erreichen sollen. Fanden zumindest ihre Eltern. Sie wussten ja gar nichts von allem. Wussten nicht von ihrer Schauspielkarriere in den angesagten Improvisationstheatern, mit denen sie das halbe Jahr auf Tournee ging. Und wo sie in einer Saison, wenn alles gut ging, mehr Geld verdiente, als ihr Vater in fünf Jahren seines abgelaufenen Berufslebens. Das alles war egal. Sie würde es ihnen so oder so nie recht machen. Sie würde das alles, was ihre Eltern von ihr erhofften, einfach nicht haben. Nicht ein 56teiliges Silberservice, nicht ein geregelter Bausparvertrag, nicht eine erst in dreißig Jahren abbezahlte Einzimmereigentumswohnungsgruft, oder ein Samstag-Ist-Waschtag-Auto oder Jahre vorher schon geplante Kinder-Club-Ferien in einer spanischen oder türkischen Urlaubskaserne mit Blick auf einen feuerquallenverseuchten Strand, über den der Abendwind die dünnen weißen Mülltüten der Supermärkte trieb wie Stroh und Gestrüpp in einem billigen Western. Gereicht hatte es bei ihr allerdings auch nicht zu irgendeiner Art von grundsätzlicher Selbstsicherheit oder zu einer - wie sich heute zeigte und sie sich dann und wann schmerzlich eingestehen musste - tragfähigen Beziehung. In wimmelnder, planloser aber auf ihre Art effektiver Geschäftigkeit zeugten um sie herum ihre Altersgenossinnen Jahr für Jahr Scharen von Kindern, verlobten sich, heirateten, bauten Häuser, sparten Steuern, kurbelten die Wirtschaft an, kauften und verkauften Aktien, schufteten sich am Nichts- oder Wenig-Tun ihrer arbeitszeitverkürzten, plansollgefüllten, teilzeitreduzierten 25-Alibi-Wochenstunden-Unterforderung krank, sorgten für stabile Sozialbeiträge und sichere politische Verhältnisse, für gute Laune auf Volksfesten und Staus auf den Umgehungsstraßen. Und sie? Wo stand sie dabei? Nirgendwo, wenn sie ehrlich sein sollte.
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