GLAUBE_LIEBE_HOFFNUNG

Zehn Monate sind vergangen, seit dem Tag des Urteils. Zehn Monate, seit der Mann freigesprochen wurde und sie lebenslänglich bekam. Ihr privates lebenslang. Keine Zelle, aus dem sie entrinnen könnte, kein Gefängnis, aus dem Flucht möglich war. Ein unsichtbarer Kerker, mit vielen unterirdischen Gängen, Höhlen und Verzweigungen, groß und weitläufig, dunkel und kalt, und in seiner Einsamkeit hallend die Schreie ihres Kindes. Ihr Sohn lebt wieder bei ihr, seit drei Monaten hat er die Klinik verlassen und wenn er abends seine Tabletten nicht vergisst, dann schreit er auch nicht im Schlaf. Aber ist er wirklich noch da? Wen hat sie da zurückbekommen? Was ist geworden aus dem Jungen und seiner Stimme? Sie hat ihn nicht mehr singen hören, seither. Den Knabenchor gibt es noch, auch wenn einige Eltern ihre Kinder nicht mehr teilnehmen lassen, und das, obwohl der Pfarrer die Gemeinde verlassen hatte. Aber der Chor übersteht solche Dinge. Hat ja Ähnliches schon öfter überstanden. Ihr nutzt das nichts. Und ihrem Sohn erst recht nicht. Er singt nicht mehr, er schweigt und starrt. Mit seinen stumpfen müden Augen, diese trüben Löcher, in die sie jeden Morgen blicken muss. 

Ihr ging es mittlerweile wieder gut. Zumindest besser. Nach Monaten der Psychotherapie für sie und ihren Sohn. Keine körperlichen Folgen erkennbar. Manchmal schlief sie schlecht. 

Bis dann dieser 23. April kam. Ein Artikel in der Zeitung. Dieser Artikel änderte alles. Zunächst war Marja nur entsetzt. Später empört. Dann zornig. Wirklich zornig. Und aus dem Zorn wurde noch am selben Tag eine Art kalter Bitternis, mit der sie den Vertrag mit Gott und dem Schicksal kündigte. Sie hatte das Urteil irgendwann angenommen. Es war ihr nicht leichtgefallen, aber sie wollte nach vorne blicken, nicht nach hinten. Das hatte einige Wochen gebraucht, aber sie hatte ihr inneres Gleichgewicht wiedergewonnen. Nach dem Urteil hatte sie überlegt, mit den Richtern zu sprechen. Ihr Anwalt hatte ihr abgeraten und erklärt, dass das am Lauf des Verfahrens ohnehin nichts ändern könne. Die Staatsanwältin hatte Tränen in den Augen. Aber das Urteil des Oberlandesgerichts konnte nur noch durch eine höchstrichterliche Entscheidung verändert werden, und diesen Weg wollte die Staatsanwaltschaft nicht gehen. Nein, der Mann Gottes war freigesprochen worden. Marja war natürlich anfangs verzweifelt, aber sie wollte nicht rachsüchtig sein. Sie war gläubig und suchte nach Halt in ihrem Glauben. Wenn Gott so etwas geschehen ließ, dann musste das doch einen Sinn haben? Was hatte sie, was hatte ihr Sohn getan, dass ihnen dies widerfahren musste? Vielleicht hätte sie alles vergessen, wenn sie Jahre in Abgeschiedenheit verbracht hätte. Sie war jedenfalls bereit zu vergessen, nicht zu vergeben. Mit Sicherheit wäre nie das geschehen, was geschah, wenn sie an diesem Tag nicht Zeitung gelesen hätte. Sie entschloss sich wirklich erst, als sie den Artikel entdeckte. Es war ein kleiner Artikel, eine Spalte nur, der Bericht über ein Treffen hoher Herren. „Die katholischen Bischöfe“, so hieß es da lapidar, „haben die Kommission geistliche Berufe der Bischofskonferenz beauftragt zu untersuchen, wie die Kirche mit Fällen von sexuellem Missbrauch umgeht. Nationale Regelungen, wie sie in anderen Ländern bereits existieren, seien für Deutschland nicht geplant, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann. Die 27 Diözesanbischöfe hatten am Montag über den Umgang mit Fällen von sexuellem Missbrauch beraten. So wird es wohl weitgehend Sache der einzelnen Bischöfe bleiben, wie sie reagieren, wenn bekannt wird, dass Priester oder Kirchenmitarbeiter ihnen anvertraute Kinder und Jugendliche missbrauchen.“ Marja konnte es nicht glauben. So wollten sie das also behandeln. Sache der einzelnen Bischöfe. Keine Regelungen, keine Sanktionen. Sie wollten alles so belassen, das ganze verlogene System, sie wollten keine Transparenz und keine Kontrollen. Jeder Bischof sollte handeln können, wie er wollte. Die Fälle unter den Tisch kehren, hieß das übersetzt. Sie verstand sofort. Sie selbst musste handeln. Sache der einzelnen Bischöfe: Als sie das las, war es soweit. Irgendetwas geschah mit ihr. Sie kannte dieses Gefühl nicht. Es war nicht Wut, es war nicht Verzweiflung. Es war etwas Kaltes, Mechanisches, ein metallisches Klicken, als ein Schalter in ihr umgelegt wurden. Marja wusste es plötzlich. Sie würde es tun. Sie musste es tun, weil, wenn sie es nicht tat, würde es niemand tun. Es war Unrecht und ihr Glauben verbot es ihr. Aber sie musste es tun. Sie hasste Selbstgerechtigkeit. Sie hasste Selbstjustiz. Aber sie musste es tun. Nichts anderes gab es für sie. Gott verbot es ihr. Aber es konnte nicht gegen ihn sein, wenn sie es dennoch tat. Davon war sie überzeugt. Das, und nichts anderes, sagte dieser Artikel. Er war ein Aufruf an sie. Es war ihre Aufgabe. Und die würde sie erfüllen. Weil es in diesem Fall nur an ihr selbst lag, nur an ihr. 

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