DIE LETZTE BAUSTELLE

Kalle hatte schon alles abgerissen. Große Häuser, kleine Häuser, Tankstellen und Kleingartensiedlungen, Kindergärten, Lagerhallen, Kasernen, Mietshäuser, Bürohäuser, Spielplätze, Wellblechsiedlungen, Bahnhöfe, Flughäfen, sogar Schlösser und Burgen. Letzteres war meist illegal und ein Verstoß gegen Denkmalschutzauflagen gewesen, aber auf dem flachen Land war mit Geld und Einfluss einiges möglich. Es gab jedenfalls kaum etwas – sei es Gebäude, Gelände, Bebauung jeder Art - das er nicht schon in Schutt und Asche gelegt hätte. 40 Jahre Abriss, so lange war er schon dabei, wie die Zeit verging: Da kam schon was zusammen. Vom Bombenkrieg versehrte Ruinen. Eingesacktes, verbogenes Fachwerk. Bausünden der 50er-Jahre, die er in den 60ern einriss. Bausünden der 60er-Jahre, die er in den 70ern abriss. Bausünden der 70er, die erst in den 90ern sein Opfer wurden. DDR-Vergangenheit in allen Facetten: Plattenbauten, Ein-Familien-Datschas, ganze Ost-Altstadtviertel hatte er nieder gemacht. Im Westen die Radikalsanierung der Innenstädte. Gründergenerationshäuser, die er mit seiner Baggerschaufel aushöhlte wie ein Löffel ein weich gekochtes Frühstücksei. Jugendstilfassaden, hinter deren Stahlgerüststützen nach drei Tagen Arbeit nichts mehr war außer dem Dröhnen und Fauchen seines Baggermotors. Für Kalle hatte das immer, selbst heute noch, den Reiz des Triumphalen. Triumph, das war für ihn nicht die geballte Faust eines erfolgreichen Torschützen, oder der juchzende Blick eines heimgekehrten Astronauten oder die stereoidzuckenden Augen eines unschuldig grinsenden Profiradsportlers beim erdopten Etappensieg auf Alpe d` Huez oder gar die Lässigkeit eines siegreichen Bomberpilotens, der noch zitternd vor überwundener Angst und im noch nicht abgeschwollenen hochmütigen Adrenalinsturm auf einem US-Flugzeugträger im Persischen Gold aus seiner Maschine klettert: Nein, das einzige Symbols des Triumphs, das Kalle zu akzeptieren bereit war, war das Bild seines schräg auf einem Schutthaufen stehenden Baggers mit halb erigierter Schaufel, den Blick des Führerhauses herausfordernd und demütig zugleich gen Himmel gerichtet, auf die bauliche Macht des Firmaments, die einzig als Grenze seines Tun er zu akzeptieren bereit war vor allem eingedenk des Schutts unter sich, begraben in Trümmern, die Vergänglichkeit der Welt, selbst jener der in Stein gehauenen. Nichts bleibt. Nichts blieb. Niemals. Nirgendwo. Das war sein Motto. Das war seine Einstellung zum Leben. Nichts blieb. Mehr gab es am Ende nicht zu sagen. Sollte jemand anderer Ansicht sein, so war er gerne zu einem Tag der offenen Tür auf seinem Bagger bereit.

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