Johannas Zimmer sieht heute anders aus. Anders als früher. Dunkler, düsterer. Anders als an jenem Tag, als sie einzog. WG ist vielleicht nicht mehr der richtige Ausdruck für eine Wohngemeinschaft Erwachsener. Sehr Erwachsener. Da war keine Jugend mehr. Wenn sie liest, dann leuchtet hinter ihr eine kleine dunkelblaue Jugendstillampe und wirft ein fahles Licht auf die Seiten ihres Buches. Der Raum wirkt jetzt viel größer und ist von ihr selbst gestaltet: die Wände sind mit Schwammtechnik liebevoll lila-blau marmoriert, die stark gemusterten Polster des Sofas und des Sessels hat sie selbst ausgesucht. Sie schlucken begierig Licht und Lärm gleichzeitig ebenso wie das große Bücherregal dem Sofa gegenüber, die gesamte Wand bedeckend, übervoll, auf den senkrecht geordneten Büchern stapeln sich waagerecht weitere, dazwischen Zettel, Dossiers, Kerzen, Stifte, Federn, getrocknete Rosen mit deprimiert gebeugten Köpfen, Knöpfe, Stoffreste, ein Kartenhaus aus Zigarettenpackungen, Münzen aus aller Welt, eine buntbemalte Maske, drei Plastiknelken vom Jahrmarkt, Dutzende von Muscheln und zerbrochene Schneckenhäuser. Auf dem Boden, neben dem Sofa, große weiche Sitzkissen, bedeckt mit indischen Saris mit ihrem immer gleichen Modergeruch, der sich hier mit dem von Räucherware vermischt, auch die Bücher riechen, es sind zu viele antiquarische darunter, insgesamt besitzt sie fast zweitausend Exemplare. Es ist eine beeindruckende Sammlung, wie ihre Gäste immer wieder feststellen, beeindruckend, weil sie offenkundig nur ein Thema wirklich kennt. „Warum, lieber Tod?“. Oder: „Der Tod wird euch finden“. „Das Leben danach“. „Abschied ohne Wiederkehr“. „Tod in Venedig“ – selbstverständlich. Tod ist hier überall. Das ist die kulturelle Verbindung zu ihrem Beruf. Dass sie – mitten im Leben – den Tod als Teil ihres Geschäfts annehmen musste, war zunächst eine Herausforderung für sie, aber sie hat sie angenommen, mit sportlicher Grundeinstellung, ihr Bücherbestand war nur ein Ausdruck davon. Denn im Grunde war es doch so: Alles andere interessierte sie nicht. Sie hielt es mit Platon. Lesen war Philosophieren und Philosophieren hieß: Sterben lernen, was sie für sich selbst damit übersetzte, dass es das ganze Leben nur um eines ging: Um den Tod. Um ganz genau zu sein – denn um Genauigkeit ging es hier: um den eigenen Tod. Bis Marike jedenfalls. Mit dem Kind in ihrem Bauch hatte sich das geändert, und heute noch, in Momenten großer Einsamkeit, die bei ihr Momente großer Ehrlichkeit sind, gesteht sie sich ein, dass dieses Kind immer auch eine Art Antwort war. Eine Antwort auf den Tod, der sie von ihrem ersten Tag auf dieser Welt umstellt hatte, umzingelt hatte, sie einzuschnüren begonnen hatte. Tod war eigentlich immer um sie gewesen, in einer ihrer frühesten Kindheitserinnerungen stand sie mit ihrer Puppe „Sabine“ auf einem Friedhof im Frühling und schaute ihrem Vater zu, der beide Arme in den Himmel reckte. Johanna war in einem evangelischen Pfarrhaus in einem württembergischen Dorf aufgewachsen und eine damals noch unentrinnbare Provinzialität und kritiklose Gottesfurcht hatten sich zu dem verschmolzen, was sie als ihr Schicksal annahm, ein Schicksal, dem sie nicht entgehen konnte – und auch nicht mehr wollte: Egal, was sie tat, egal, was sie dachte, egal, wo auch immer sie ging: Sie stand drecktief in Gummistiefeln im düsteren bäuerlich-pietistischen Moralmorast ihrer Herkunft, und dem war nicht zu entkommen, auch nicht durch Flucht, wie sie feststellen musste. Egal wie schnell sie rannte, der zähe Schlamm ihrer Herkunft klammerte sich an ihre Füße und Unterschenkel und je schneller sie davon wegkommen wollte, umso mehr zog es sie hinab. Dort, wo sie herkam, waren Leben und Tod enger als anderswo miteinander verschlungen im immerwährenden Wechselspiel agrarischen Wachsens und Vergehens, dem Rhythmus der Jahreszeiten, dem Gebären und Verrecken, dem Aufbegehren und Sich-Unterwerfen, den Lobpreisungen und der Klage im mechanischen Kirchenjahrs-Takt der polternden Sonntagspredigten ihres Vaters, dessen Lieblingsthema das Jüngste Gericht war, nach der Offenbarung in der Johannesapokalypse. Das Ende hatte schon begonnen, war seine Botschaft und auch ihr war schon als Kind mit für sie damals brutaler Deutlichkeit klargemacht worden, dass er damit ein langes Ende meinte. Ihre Rebellion dagegen, das hat sie gemerkt, ist fast noch schlimmer als das biblische Pathos, das ihre Kinderwelt zum Zittern gebracht hatte, denn heute überfällt sie bevorzugt am Abend, in Momenten ungeplanter und plötzlicher Ruhe die Leere des Zweifels und dann spürt sie das verdrängte Erbe ihrer Familiengeschichte: Die fürchterliche und furchterregende Angst vor der Unvorstellbarkeit des Nichts, die Kälte des Abgrunds, über den zu kippen ihre quälende Angst immer war, oder schlimmer noch: die Sinnlosigkeit und Entwertung, die aus den Rissen in ihrem Realitätshologramm in ihr Ich sickern, wie dampfende, giftige Klärflüssigkeit, die ihre Welt zu verätzen begann, alles, was sie tat, alles, was sie dachte, alles was sie fühlte: Was machte es für einen Sinn, wenn das Leben dieser Substanz nicht standhielt, wenn es kein Überdauern gab, wenn in der Tiefe des letzten Grundes kein Bewahren, sondern nur Vergessen, Auflösung, Recycling in den Spannungszuständen der Dunklen Materie blubberte? Das konnte ihr dann schon einmal die Laune verderben. Ihr Vater war ein ehrenhafter Mann gewesen, aber ein letztlich für sie als Kind überfordernder Patriarch, mit großen Gefühlen, die er nicht zeigen konnte (was schlimmer war als gar keine Gefühle) und mit einer Bestimmtheit in Denken und Handeln, die ihr die Möglichkeit, Zwischentöne zu hören, Schattierungen wahrzunehmen, weich, flexibel und geschmeidig zu sein, zubetonierte wie Liquidatoren den durchgeschmolzenen Reaktorkern von Tschernobyl. So blieb ihr nur das Absolute, vor dem sie schon damals als Kind auf dem Friedhof stand, und sie entwickelte mit den Jahren jenen besonderen Sinn für die letzten Dinge, trotz aller Beschränkung war das auch eine Art Begabung, wenn sie es sich heute so überlegte, jedenfalls etwas, das nicht alle hatten und das, sie konnte es manchmal selbst kaum glauben, eine gesuchte berufliche Kompetenz darstellte. „Extinct, burned out. Nothing to talk about. Wasting away, losing time. Dying inside every day am I. Why am I still here?“ sang ihre Lieblingsband NACHTMYSTIUM, es war dunkel, es war schwarz, es hatte keinen Humor und keine Hoffnung, es war laut und brutal, es war endgültig und gemein. The absence of existence. Es war mehr als eine Ahnung oder ein Gefühl oder ein Wissen. Es wurde eine Haltung. Eine innere Aufnahme- und Verständnisbereitschaft. Für das Endgültige. Für den Abschluss. Für das unsagbar Fraglose. Sie wusste, wann Schluss und was dann zu tun war. Eine gewisse Härte gegenüber sich selbst, einen unbestechlichen, rigorosen, aber vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgenen Blick auf sich selbst hatte das ebenso zur Folge, wie bestimmte sexuelle Interessen, die aber ihrer Ansicht nach niemanden etwas angingen. Ihre Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen, ja regelrecht dorthin zu treiben, machte sie in ihrer ersten Kanzlei zu etwas Besonderem, zu einer Person auch, vor der viele, wenn nicht alle eine nicht näher beschreibbare Angst hatten. Sie spürten an ihr eine ihnen selbst unheimliche kalte Konsequenz und eine von vielen als unangenehm empfundene moralische Härte, die, unartikuliert, nicht in Worten oder Taten sich äußerte, sondern nur durch jene Haltung, und die umso quälender zu spüren war, je weniger Johanna davon zu erkennen gab. Das war kein Fatalismus oder ein eindimensional verstandener Stoizismus, das war eine ihrer eigenen Entwicklung abgetrotzte, eiskalte Skepsis, ein kühl-faszinierter Ingenieursblick auf die komplizierte Mechanik der Gefühle. Das Geschäft der Erbrechtsanwältin war das Geschäft des Möglichen, und das Mögliche gab es nur zwischen Menschen und ihren Gefühlen. Sie war eine Meisterin in deren Komposition, und alle in der Kanzlei wussten das: niemand machte so brutale Kompromisse, wie Johanna. Nachdem sie die streitenden Parteien zuerst unerbittlich aufeinander zu hetzen schien und durch geradezu gefühllose Verwaltungs- und provozierende Konfliktarbeit entnervt hatte, und die Mandanten nicht selten ihre Abberufung sowie empathischeren Ersatz forderten, zeigte sie oft in einem Moment, in dem alles schon zu scheitern schien, in dem alle am Ende waren und jeder von jedem die denkbar schlechteste Seite kennengelernt hatte, eine von niemandem mehr für möglich gehaltene Flexibilität. Und dann ging alles meist sehr schnell. Mit kühler und kaum verstellter Verachtung konstruierte sie mit triumphierendem und gleichzeitig demütigendem Gestus den Konfliktparteien einen Deal, der alle beschämte, alle Widerwärtigkeiten verschriftlichte alle, ja: alles hinrichtete. Der dieser Einigung entspringende Vertragstext war ihr Denkmal für diese Welt, das sie dem Abgrund, den sie gerade wieder hatte kennenlernen dürfen, setzte. Wenn sie eines verstanden hatte: Wenn es ums Erben ging, dann wurden Leben abgerechnet. Dann kamen Weltentwürfe auf den Tisch. Dann waren alle zurückgeworfen, auf das, was existenziell war: Die Liebe des oder der Verstorbenen und die Erinnerung an diese Liebe und die Deutungshoheit darüber für jetzt und immer und in Ewigkeit. Diese Mischung aus einer für viele Beobachter unverständlichen Rigorosität und einer oft nur als skrupel- und interesselos zu verstehenden finalen Kompromissfähigkeit, die immer, wirklich immer, zu Ergebnissen führte, machten sie unverzichtbar im Team. Sie bekam jene Fälle, in denen keine Aussicht auf eine außergerichtliche Einigung mehr bestand. Als sie ihr vor fünf Jahren die Beteiligung angeboten hatten - was eine schlagartige Verdopplung ihrer Einkünfte und lebenslange Absicherung zur Folge gehabt hätte - sagte sie zur Überraschung aller Nein, und das, obwohl sie offenkundig ehrgeizig war und Geld nicht verachtete. Es war, als habe sie – zusätzlich zu ihrer für manche Kollegen ohnehin schwer zu ertragenden beruflichen Kälte und Arroganz – nun auch noch das letzte Band geschäftsmäßiger Gier und Gerissenheit zerschnitten und es war noch nicht klar, ob sie durch ihre Haltung nun nicht selbst die Wohlwollenden oder Desinteressierten vor den Kopf gestoßen hatte. Die stille Aufkündigung erwarteter Kameraderie jedenfalls oxydierte den auf Furcht basierenden Respekt und bald nahmen sie Referendare und Assessoren nicht mehr ganz so ernst wie früher, obwohl sie sie heimlich fürchteten. Johanna war das zwar schon immer egal gewesen und sie beobachtete mit dem kalten Blick der Insektensammlerin die von Korrosion bedrohte Statik ihrer beruflichen Verankerung. Ihr ging es um die letzten Dinge. Aus ihrer Sicht machte das den Unterschied. Ihren Kolleginnen und Kollegen ging ihnen nicht um die letzten Dinge, sondern um die nächsten. Um das, was ihnen nahe lag. Sie machten es – für Geld. Nun, nicht dass aus Johannas Sicht daran schon etwas prinzipiell Schlechtes gewesen wäre, ganz sicher nicht, jeder machte schließlich irgendetwas für Geld, aber ihr war das ein bisschen zu wenig, es gab doch noch mehr im Leben, nicht wahr? Im Leben vielleicht, könnte man erwidern, im Tod – so wie es aussah – doch eher nicht. Die Erbrechtskanzleien waren die Entsorgungsunternehmen der Juristenbranche, ihre Fachkräfte die Hygienehyänen des Rechtssystems, die sich am Aas der Sterblichkeit labten und die Reste schließlich beseitigten. Ohne sie kein Wachstum, kein neues Entstehen. Der Tod war kein schlechter Ratgeber in Geschmacksfragen, fand sie. Er schloss das Unwichtige, das Uneigentliche, das Irrelevante weitgehend aus. Ein schwarzes Zimmer. Schwarze Kleidung. I don´t wanna be. Me. Die düsteren Blicke der Heavy Metal-Musiker auf den Fotos, die sie aufgestellt hatte. Silberne Wechselrahmen, die nicht mehr glänzten und stumpf auf die nächsten Kondolenzbildchen warteten. Die bald kommen würden.
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