JOHANNA: METAL GOD

Sterben müssen wir alle. Das weiß niemand besser als Johanna. Bei ihrem Beruf war das auch kein Wunder. Wenn Johanna kam, war immer jemand gestorben. Naja, sie kam ja nicht wirklich. Die Leute kamen zu ihr. Irgendjemand musste ja den Nachlass regeln. Vor allem in diesem chaotischen Business. Mach was Sicheres, hatte ihr die Mutter geraten. Und der Vater, der mit seiner Drogerie in den siebziger Jahren Pleite gemacht hatte, weil die großen Ketten und Supermärkte ihm die Luft zum Atmen abschnürten wie wenig später die Angina pectoris die Blutzufuhr, der Vater hatte genickt: Mit Jura machst Du nichts falsch. Gestritten wird immer. Gestorben auch. Anwältin für Nachlasssachen: Das war doppelt sicher. Mehr rechtmachen kann man es seinen Eltern nicht. 

Nun ja, mit Ausnahme ihrer Klientel. Die hätte jetzt Mutter und Vater sicher nicht mehr so gut gefallen, aber für Meinungsäußerungen in dieser Hinsicht war es aus vielen Gründen zu spät. Sie war den Menschen erlegen, die ihre Sterblichkeit maximal ignorierten. Sie taten, als wären sie unverletzlich, unantastbar, unerreichbar: Das machte sie unsterblich. Rockstars wussten das. Sie nahmen dieses Wissen mit jedem Glas Alkohol, jedem Joint, jeder Line, jeder Droge jeder Art in sich auf und so bestanden sie mit den Jahren allmählich mehr und mehr nur noch aus dieser ihrer Ursubstanz: Dem Leugnen, dem Riskieren, dem mit großer Geste von sich weisen, dem so tun, als gebe es kein Ende – jedenfalls nicht für sie. Und weil sich dem – jedenfalls in diesem Geschäft - niemand entziehen konnte (und wollte) und weil die psychischen und physischen Kosten für diese Lebenslüge (oder war es eine Todeslüge?) enorm waren, brauchten sie irgendwann einmal Frauen wie Johanna. Jedenfalls diejenigen, die ganz heimlich doch daran dachten, wie es wäre, wenn sie nicht mehr wären. Ansonsten kamen später die trauernden Angehörigen. Johanna war das egal. Das alles war letztlich vorbei. Ein, zwei Fälle noch pro Jahr. Sie musste nicht mehr arbeiten. Sie begleitete nur die diejenigen, die sie wirklich interessierten. Und das waren nicht mehr viele. Nicht mehr war so, wie früher. In den 1960ern, den 1970ern und vielleicht noch in den 1980er-Jahren war das alles ein cooles, lockeres Business gewesen und war man einmal drin, liefen für die Typen, aber auch für Johanna, viele Dinge wie von selbst, Aufgaben, Ansehen, Veröffentlichungen, Konzerte, Geld, Fernsehauftritte, Häuser an der Cote d´Azur, Eigentumswohnungen in New York City, Geldanlagen auf den Cayman Islands, notariell beglaubigte Testamente, im Suff zerrissen und verbrannt. Aber heute? Die Häuser waren verkauft, die Wohnungen gehörten den Gläubigern der Plattenindustrie, die Steuersparmodelle waren erledigt. Veröffentlichungen lohnten kaum noch und gesagt war doch sowieso schon alles. Und körperlich? Johanna machte sich da keine Illusionen, sie hatte genug gesehen. Die Angehörigen der Generation Rocker waren vor ihren Augen verreckt. Sie starben wie die Fliegen. Vordergründig an allem Möglichen. Am Alkohol, an den Zigaretten, an der Schlaflosigkeit, am Stress, an den Kränkungen, die das Alter und die irgendwann für jeden einsetzende Erfolglosigkeit mit sich brachten, an dem lähmenden Nervengift, das die stickigen billigen Hotelzimmer freisetzten, die die Bands nach ihren Auftritten von Jahr zu Jahr immer liebloser bewohnten, interesselos wie Fledermäuse in ihren verdreckten Freigehegen im Zoo. Vielleicht war das schon immer so gewesen, vielleicht fiel es jetzt erst wirklich auf, aber: Die Jungs wurden nicht alt in dieser Welt. Meistens waren es Jungs. Sechzig Jahre waren schon gut, siebzig die Ausnahme. Alle berauschten sich für einige wenige Jahre an der Geschwindigkeit des Lebens und am Erfolg oder dem, was sie dafürhielten, dann war rasch alles vorüber, war verschwunden, wie ein Spuk, ein schlechter Witz, nur die Sehnsucht nach dem Rausch blieb. Sie ätzte, nagte, fraß und machte aus den Helden von gestern bedauernswerte Narren, die nicht altern konnten und nicht wollten und die mit immer größerer und demütigender Lächerlichkeit so taten, als habe sich nichts geändert, als werde sich niemals etwas ändern,  der Lärm nicht, die Bühnen nicht, die Fans nicht, das Lampenfieber nicht, der Erfolg nicht, diese schlimmste aller Drogen, die ein Verlangen auslöste, das nie mehr verschwand, ebenso nicht wie die verdammten Dealer, die wie eh und je vor den Türen lungerten, weil sie wussten, dass hier das Geschäft lief, oder die mit den Jahren ebenfalls verfallenden Groupies, ihr rascher, kalter Sex, dessen Höhepunkte auch nicht mehr das waren. Ja, vielleicht war das immer schon so gewesen, und auch in Ordnung, gehörte einfach mit dazu wie das Tempo, der Schlafmangel, die scheinbare Vorläufigkeit in allem. Auch im Tod. Und in allem, was danach kam. Deswegen war sie hier.

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