Piet hatte von Anfang an gesagt, dass aus ihm nie ein guter Vater werden würde. Er hatte es laut gesagt, er hatte es leise gesagt, er hatte es vor Zeugen gesagt, er hatte es einsam vor sich hingemurmelt, er hatte es - betrunken - auch schon einmal herausgebrüllt. Er hatte es freundlich gesagt, er hatte es diplomatisch gesagt und vor allem: Er hatte es deutlich gesagt. Schon vor der Ehe, schon vor der Schwangerschaft, schon vor allem, was dann kam. Man konnte ihm vieles vorwerfen, aber eines nicht: Dass er es nicht von Anfang an gesagt hatte. Man konnte es: nicht missverstehen. Es war: nicht interpretierbar. Nicht zu leugnen. Aber im Nachhinein nicht, auch heute nicht. Er würde es einfach nicht sein. Nicht sein können. Kein Vater, der treusorgend immer da sein würde. Kein Vater, der ein echter Freund war. Keiner, egal, ob Junge oder Mädchen. Kein Kamerad fürs Leben, keiner für Wanderungen und Ausflüge, für Campingurlaube und Safaris, keiner für vertrauliche Gespräche, keiner für Ponyreiten und Pferdestehlen, für Fußballplatz und samstägliches Rumschrauben an Mofa oder Motorrad, kumpelhaft, tröstend, lobend, zuhörend, immer da bei den vielen ersten Malen: dem ersten aufrechten Schritt, dem ersten Schultag, dem ersten Liebeskummer, dem ersten Kuss. Er war, so ehrlich wollte er auch aus heutiger Sicht sein, keiner für Geheimnisse, keiner für den Spätfilm im Kino und keiner für heimliche Zigaretten auf dem Balkon. Kein Vater, der immer ansprechbar war. Keiner der Zeit hatte, wann immer es notwendig war. Kein Vater, dem man alles erzählen konnte. Kein Vater, an dessen Brust es sich gut weinen ließ. Kein bester Buddy der Welt. Keiner, der seinem Kind die Welt versprach, vor allem nicht jene Welt, die alle Kinder wollen, auf die es ihnen einzig ankommt: Wärme, Liebe, Sicherheit. Sicherheit? In seinem Leben?

PIET: VATER

Aber sie wollten ja nicht auf ihn hören. Frida nicht, und ihre Mutter auch nicht. Ihre Freundinnen nicht, manche der gemeinsamen Freunde auch nicht. Das wird schon. Das gibt sich schon. Wenn das Kind erst einmal da ist. Du wirst schon sehen. Nein, niemand wollte es hören. Niemand wollte es wissen. Seinen eigenen, leiblichen Vater hatte er genau dreimal in meinem Leben gesehen, vielleicht hatte alles damit zu tun, und auf diese drei Male hätte er auch gerne verzichten können. Die beiden letzten Male waren im Krankenhaus und danach aufgebahrt in der Aussegnungshalle an einem verregneten Mai-Vormittag. Beim ersten Mal war er fünf oder sechs Jahre alt gewesen und eines Morgens kam dieser Typ plötzlich aus dem Badezimmer, den hellblauen Bademantel seiner Mutter lose über den Schultern, ansonsten nackt und er kratzte sich an den Eiern. Der Mann blieb vor ihm stehen und starrte ihn von oben herab angewidert an, als sei er ein lästiges Tier, ein Insekt, ein krabbelndes Etwas, der Heerführer einer Schädlingsplage oder eben: ein Kind, das jederzeit anfangen konnte zu quengeln, zu heulen, zu schreien, kurz: zu nerven. Er hatte den Mann zuvor noch nie gesehen, und obwohl da dauernd irgendwelche Typen bei seiner Mutter übernachteten, Fotografen, Modedesigner, Schauspieler, Künstler aller Art und er sich schon seit langem keine Gedanken mehr um das ewige Kommen und Gehen männlicher Nachtbegleiter machte, wusste er es in diesem Moment, ohne jeden Zweifel, ohne Zögern: Irgendetwas stimmte nicht mit diesem fremden Mann. Und der wusste es auch.

„Ist er das?“, fragte der Mann in Richtung auf die geöffnete Schlafzimmertür und von dort hörte er ein grunzendes Geräusch, das genauso gut Zustimmung wie Protest oder morgendliche Verdauungstätigkeit sein konnte. Der fremde Mann blickte ihn noch einmal an, schüttelte den Kopf, ging dann ins Schlafzimmer zurück und ließ die Tür hinter sich in den Rahmen krachen. Casper schloss die Tür zu seinem Zimmer etwas weniger heftig, aber ähnlich entschieden: Egal wer dieser Mann war, egal, was er mit seiner Mutter machte, egal, was er ihr möglicherweise bedeutete (oder auch nicht), er sollte draußen bleiben, draußen aus seinem Zimmer, draußen aus ihrer Wohnung, draußen aus seinem Leben. Es war Nachmittag, als es schließlich klopfte und ihm seine Mutter mit einer wortlosen Kopfbewegung Frühstück anbot und da war er schon weg. Es gab keine Bestätigung und kein Dementi, es gab überhaupt keinen Kommentar. Er gab ihr nachträglich recht: Warum sollte sie diesen Kerl kommentieren, wenn heute Abend schon der nächste hier sein würde? Aber so wenig sie über diesen einen kleinen Zwischenfall sprachen, so klar war es ihm: Das musste sein Vater gewesen sein. Am meisten erschütterte ihn damals die Tatsache, dass es seinen Vater überhaupt gab. Irgendwie war er immer davon ausgegangen, dass es ihn überhaupt nicht gab, von den grundsätzlichen biologischen Notwendigkeiten hatte er zu diesem Zeitpunkt nur eine unvollständige Vorstellung und sein noch kindliches Wesen schloss es, warum auch immer, völlig aus, dass sein Vater jemals in seinem Leben auftauchen würde. Er war nicht nur weg, sondern er war nie dagewesen, eine Leerstelle, ein Nichts, keine Fehlprägung, sondern überhaupt keine Prägung: ein Weiß im Weiß auf einer blütenreinen, frisch gestrichenen Wand, die taube Regungslosigkeit der kühlen Luft in einer französischen Kathedrale im August, das Schweigen auf den Gesichtern von Trauernden auf einem namenlosen Friedhof. Nichts, einfach nichts.

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